Band 1:  Die andere Hälfte meiner Seele Teil III:  Krieger-Seelen



Krieger-Seelen



„WER sind Sie?”
      „Ich bin Delenn.”
      „Das habe ich nicht gefragt.  Wer sind Sie?”
      „Das ist die einzige Antwort, die ich Ihnen geben kann.  Ich war Satai vom Grauen Rat.  Ich war ein Mitglied des Clans von Mir, aus der Religiösen Kaste.  Ich war vieles.  Nun bin ich nur noch Delenn.”
      Captain John J. Sheridan sah sie direkt an und senkte dann seinen Kopf, wobei er verärgert auf den Tisch hämmerte.  Nichts ergab für ihn mehr Sinn.  Schon seit seiner Rückkehr von der Heimatwelt der Narn nicht.  Er hatte.... dort Dinge gesehen, die ihn gezwungen hatten, so viel in seinem Leben neu zu bewerten.  Er hatte von dem Feind erfahren, und von einem Netzwerk von Agenten, das errichtet worden war, um diesen mysteriösen Feind zu bekämpfen, angeführt von einem Mann, dem er nur Respekt und Vertrauen entgegenbringen konnte.  Und er hatte erfahren, daß er vielleicht direkt verantwortlich dafür war, eben diesen Feind in eine Allianz mit dem, was von der menschlichen Rasse übrig war, gebracht zu haben.  Alles, was John Sheridan lieb und teuer war, stürzte um ihn herum zusammen, und diese Frau war in dessen Zentrum.
      Eine Minbari.  Sogar eine Satai.  Sie hatte Anteil an der Zerstörung seines Heimatplaneten gehabt.  Sie hatte zugesehen, als er, blutend und in Fesseln, vor den Grauen Rat gebracht worden war.  Sie war ihm während seiner Flucht in die Hände gefallen, und hierhin, nach Proxima 3, gebracht worden.  Sheridan hatte gewußt, was ihr angetan werden würde.  Sie war die erste Quelle von korrekter, verläßlicher Information über die Minbari, die die Widerstandsregierung hatte, seit der Krieg vor vierzehn Jahren begonnen hatte.  Die Menschheit würde alles tun, um diese Informationen zu bekommen.
      Aber dennoch.... Sheridan war erschüttert gewesen über ihren Anblick bei seiner Rückkehr.  Stöhnend, im Delirium, fast verhungert, geschwächt....  Er hatte einfach einen Akt der Barmherzigkeit gezeigt - Essen, Trinken und Schlaf.  Und warum?  Was war sie für ihn?  Ein Feind?  Ein Monster?  Eine Frau ganz allein in der Nacht?
      „Wer sind Sie?” flüsterte er, nicht zu ihr, sondern zu sich selbst sprechend.  Eine Frage, auf die er keine Antwort kannte.
      „Captain,” sagte sie behutsam, und er blickte auf.  „Sie sind nicht allein in Ihrem Schmerz.  Niemand ist es.”
      „Sie sind es.”
      Sie hielt inne.  „Nein.  Ich habe meine Erinnerungen, und meinen Zweck.  Ich habe meine Meditation.  Ich bin nicht allein.”
      Sheridan war da anderer Meinung.  Die einzige ihrer Art in einer Welt, in der sie überhaupt keine Freunde hatte.  Er hatte gehört, daß es während seiner Abwesenheit sogar Tumulte gegeben hatte, als Leute sich bemühten, sie hinrichten zu lassen.  Ihr einziges Zuhause war nun ein grauer Raum, mit Wänden, zwei Stühlen und einem Tisch.  Ihre einzige Gesellschaft waren der sarkastische, kaltblütig-brutale Mr. Welles, der fähig war, sie seelisch und emotional auseinanderzureißen, ohne auch nur einen Finger an sie zu legen; oder die schweigsamen Wachen, die sie einfach nur mit Augen voller Haß anstarrten, oder Sheridan selbst....
      „Auf Narn habe ich jemanden namens Neroon getroffen”, sagte er.  „Er.... schien Sie zu kennen.”
      „Neroon,” sie sprach seinen Namen sanft aus, als ob er immer in ihren Gedanken gewesen wäre, sie aber bis jetzt niemals fähig gewesen war, sich dies einzugestehen.  „Ich vermisse ihn, aber.... er hat seinen Weg und ich habe meinen.  Wer hätte gedacht, daß meiner mich hierhin führen würde?”
      „Er sicherlich nicht.  Hatten Sie viele.... Freunde auf Minbar?”
      „Ein paar.  Viele waren fort.  Der Krieg.  Der Feind.  Branmers Tod war sehr traurig.”
      „Oh ja.  Ich habe von ihm gehört.  Er hatte bei der Schlacht um die Erde geführt, nicht wahr?”
      „Und danach die Ranger.  Er war ein großartiger Mann.”
      „Ich.... ich habe mich bloß gefragt.... hatten Sie überhaupt eine Familie?  Einen Bruder oder eine Schwester?”
      „Nein,” sagte sie sanft.  „Meine Mutter trat den Töchtern von Valeria bei, kurz nachdem ich geboren wurde, und ich habe sie seitdem nur ein paar Mal gesehen.  Mein Vater.... er versank vor vielen Jahren im Meer.  Ich vermisse ihn.  Er war ein guter Mann, weise und sanft.  Ich habe... Cousins, aber keine nahe Familie mehr.  Außer Draal.”
      Sheridan verstand einiges von dem, was sie gesagt hatte, nicht.  Die Töchter von Valeria?  Irgendeine Art von religiösem Orden?  Versank im Meer?  „Draal?” fragte er sanft.  Der Name war ihm unbekannt.
      „Der beste Freund meines Vaters.  Er war mein Lehrer, als ich noch ein Kind war, und mein Gewissen als Erwachsene.  Er.... war ein alter und lieber Freund?”
      „War?”
      „Er lebt noch.... hoffe ich.  Aber.... ich bin nun für ihn verloren.  Ich bin für alle verloren.”  Sie blickte auf und erwiderte seinen Blick.  Sheridan war sich bewußt, wie er aussehen mußte.  Er hatte sich seit Tagen nicht mehr rasiert, und die Müdigkeit und Verbitterung schienen seine Augen niemals zu verlassen.  Anna hatte sich oft genug über sein Aussehen beschwert.  „Und Sie, Captain?  Haben Sie hier eine Familie?”
      Wenn das von irgendeinem anderen gekommen wäre, hätte Sheridan nach einer Frage wie dieser um sich geschlagen, aber nicht hier.  Er hatte Delenn einmal geschlagen, und hatte sich hinterher krank gefühlt.  „Meine Eltern und meine Schwester starben auf der Erde,” sagte er und versuchte, alle Emotionen aus seiner Stimme zu verbannen.  Er sah, wie sich Delenns Augen weiteten, und sie atmete scharf ein, ein sanfter Atemzug voller Schuldgefühl.  „Meine Tochter starb vor ein paar Jahren.  Meine Frau ist immer noch hier, aber.... sie ist nicht mehr dieselbe Frau, die ich geheiratet habe.”
      „Es... es tut mir leid, Captain.  Ich... Oh, Valen...”  Sie sah aus, als ob sie gleich weinen würde.  Er erwiderte ihren Blick einen Augenblick lang und sah, reflektiert in ihren Augen, das Licht einer sterbenden Erde, und einen mit ihr sterbenden Traum.  „Er hatte recht,” hauchte sie.  „Mr. Welles hatte recht.  Ich... ich habe so viel zerstört.  So viel fort, das niemals wiedergewonnen werden kann.  So viel für immer fort.  Möge Valen mir vergeben.”
      Sheridan hörte wortlos ihrer Litanei zu und dann, ohne sich ganz im klaren zu sein über das, was er tat, kniete er sich neben ihrem Stuhl nieder und berührte ihre Hand, bedeckte sie mit seiner eigenen.
      Im Raum war es still, abgesehen von den rhythmischen Schlägen ihres Herzens und der stillen, friedvollen Bewegungen ihrer beider Atmung, die in Übereinstimmung miteinander zu sein schienen.

*    *    *    *    *    *    *

Lyta Alexander war eine Frau mit einem Auftrag, und dieser Auftrag war es, den Mann zu finden, der immer bei Captain Sheridan herumhing.  Marcus, so lautete angeblich sein Name.  Sie war ihm einige Male seit seiner Rückkehr nach Proxima 3 mit Captain Sheridan begegnet, und er hatte versucht, ihr auszuweichen, bei einer Gelegenheit war er sogar weggerannt.  Lyta war lange genug auf Proxima 3 gewesen, um zu erkennen, daß Captain Sheridan es nicht mochte, auf einem Planeten zu verweilen, wenn es sich vermeiden ließ, und es war sehr wahrscheinlich, daß er bald wieder fort sein würde.  Das würde bedeuten, daß Markus mit ihm abreisen würde, und so mußte sie ihn zuerst erwischen.
      Das war jedoch leichter gesagt als getan.  Es gab einige Punkte zu bedenken:
1.   Sheridan war auf dem Planeten, nicht an Bord der Babylon.
2.   Marcus war Sheridan so nah wie sein Schatten, also machte es Sinn,
      daß Marcus ebenfalls auf dem Planeten sein würde.
3.   Finde Sheridan, und damit auch Marcus.
      Unglücklicherweise war Sheridan ein Meister darin, nicht gefunden zu werden.  Das war einer der Gründe, warum er immer noch am Leben war.  Lyta hatte nur wenige Stunden Zeit, bis zu ihrem nächsten Versuch, diese Minbari für Mr. Welles zu scannen, und sie wollte sichergehen, daß sie Marcus vorher fand.
      (Und jeder Moment, den sie mit der Suche nach - und dem Denken an - Marcus verbrachte, war ein Augenblick, an dem sie sich nicht an ihre Träume erinnern brauchte.)
      Leichter gesagt als getan.  General Hague hatte keine Ahnung, wo er war, und Sheridan traf sich definitiv nicht mit Mitgliedern der Widerstandsregierung, die sich den gesamten Nachmittag gegenseitig die Köpfe einschlugen.  Sheridan war auch nicht bei seiner Frau, die vermutlich in irgendeiner Bar liegengeblieben war.
      Somit war nur noch ein Platz zu überprüfen, und sie war sichergegangen, ihn bis zuletzt aufzusparen.  Delenns Zelle war nicht unbedingt der angenehmste Ort auf dem Planeten, und es bestand die Möglichkeit, daß Welles da sein würde.  Lyta mochte Welles nicht, ganz und gar nicht.  Sie mochte es nicht, in Delenns Verstand eindringen zu müssen, und sie mochte es bestimmt nicht, daß Welles ihr zusah, während sie das tat.
      Welles.... es war, als wäre er einfach ein Roboter.  Was auch immer an Menschlichkeit in ihm gewesen war, es war mit der Erde zerstört worden.  Sie hatte einmal einen beiläufigen Scan an ihm versucht, nur aus reiner Neugier, und sie war abgestoßen worden von der kalten, präzisen Zweckmäßigkeit des Mannes.  Für ihn war alles nur eine Reihe von Problemen, die gelöst werden mußten, und von Schritten, die bei der Zurückforderung des Erbes der Menschheit zurückgelegt werden mußten.  Es gab keine Menschlichkeit in ihm.
      Dennoch, trotz der Gefahr, Welles zu begegnen, entschloß sie sich, die Gegend zu überprüfen.  Marcus mochte vielleicht des Risikos wert sein.
      Der diensthabende Sicherheitswachmann am Eingang zum Gefängnis blickte abrupt auf.  Lyta erkannte ihn.  Ein gelassener, präziser, verantwortungsbewußter Mann namens Morishi.  Er hatte wenigstens eine Art von Seele in ihm, auch wenn diese Seele sich durch extreme Gewalttätigkeit verfinsterte, wann auch immer irgend jemand die Minbari erwähnte.
      „Miss Alexander,” sagte er.  „Ich habe Sie nicht innerhalb von weiteren drei Stunden erwartet.”
      „Ich habe jemanden gesucht,” sagte sie kühl.  „Sagen Sie mir, ist Captain Sheridan da drinnen?”
      „Sie wissen, daß mir nicht erlaubt ist, Informationen wie diese heraus zu geben, Miss Alexander.”
      „Natürlich,” sagte sie lächelnd.  Sie setzte sich auf seinen Pult, schlug, immer noch lächelnd, ihre Beine übereinander und blickte ihn an.  Warum konnte es nicht Cutter gewesen sein?  Er wäre so damit beschäftigt gewesen, auf ihre Beine zu starren - oder vielleicht auf ihre Brust - daß er keinen Versuch, seinen Verstand zu scannen, bemerken würde.  Morishi war bei weitem zu professionell.  Dennoch, Lyta war bei dem, was sie tat, sehr gut.  „Dann Mr. Welles?  Ich habe etwas, was ich mit ihm besprechen sollte.”
      „Mr. Welles ruht sich aus,” sagte Morishi, ohne den Blick von ihr zu nehmen.  Immer noch lächelnd, zog sie langsam einen schwarzen Handschuh aus und berührte seine Wange.  „Sie.... sollten.... wiederkommen.... um.... fünfzehn....  Ja, natürlich, Miss Alexander.  Gehen Sie gleich hinein.”
      Lyta sprang vom Pult herunter und rauschte an ihm vorbei, während sie dabei ihren Handschuh anzog.  Morishi würde Ärger deswegen bekommen, wenn Welles wiederkam, aber damit konnte sie sich später befassen.  Sie hatte wenigstens erfahren, daß Sheridan in Delenns Zelle war, und deswegen würde Marcus bei ihm sein.
      Sie wanderte eilig entlang der gewundenen Korridore, und lächelte und nickte dabei den verschiedenen Wachen zu.  Cutter war einer von ihnen, und ihn lächelte sie nicht an.  Sie brauchte keine Telepathie, um zu erkennen, was er dachte.
      Je näher sie an Delenns Zelle kam, desto langsamer wurde ihr Gang.  Sie konnte praktisch die Angst und den Haß fühlen, die aus dem Raum strömten, in dem sie durch lange Wochen des Verhörs und Schmerzes verwurzelt waren.  Sie war bereits sechs Mal innerhalb von Delenns Verstand gewesen, und sie mochte die Erfahrung nicht.  Sie hatte keinen Grund, die Minbari zu lieben, aber sie fühlte die Angst und Trauer und Qual in Delenns Verstand, und das entnervte sie.
      (Außerdem war da noch etwas anderes, etwas, das auch wußte, daß Lyta dort war.)
      Aber nicht die gesamte Angst und Trauer und Qual kam von Delenn.  Als sie um die Ecke ging, rannte sie beinahe geradewegs in Marcus.  Er war während der ganzen Zeit auf und abgelaufen, und sie konnte die Besorgnis in seinem Verstand spüren.  Er trat von ihr zurück und neigte seinen Kopf scheinbar als Zeichen der Entschuldigung.  Dann trat er zur Seite.  Sie blickte ihn an und lächelte.  Sie hatte viel Zeit damit verbracht, dieses Lächeln zu perfektionieren .
      „Satai Delenn ist in ihrem üblichen Raum,” sagte Marcus.  „Captain Sheridan ist bei ihr.”
      „Ich kam nicht wegen Satai Delenn, oder wegen Captain Sheridan.”
      „Oh?”
      „Ich kam Ihretwegen.  Hätten Sie etwas gegen ein Dinner heute Abend?  Ich bin kein guter Koch, aber ich könnte sicherlich etwas hinkriegen.”
      Er starrte sie nur an.  „Miss Alexander....”
      „So fühle ich mich wie ein Schullehrer.  Mein Name ist Lyta, und Sie sind Marcus.”
      „Sie kennen mich kaum.”
      „Dann wird ein Dinner eine gute Gelegenheit sein, Sie kennen zu lernen.  In meinem Quartier um.... sagen wir mal.... acht Uhr heute Abend.”
      „Ich weiß nicht, wo Ihr Quartier ist.”
      Sie lächelte wieder, und berührte leicht seine Stirn.  „Nun wissen Sie es.”  Sie war auf seine Reaktion völlig unvorbereitet.  Er stieß vorwärts, warf sie gegen die Wand und drückte sie eng dagegen.
      „Tun Sie das niemals wieder!” brüllte er.  „Niemals!”
      Sie sah in seine Augen und ihr Lächeln verblaßte.  Ein feiner telepathischer Stich, und er schreckte zurück und rieb seine Stirn.  Es war ein augenblicklicher Ausbruch von Schmerz, und nichts weiter.  „Und Sie sollten DAS niemals wieder tun,” sagte sie.  „Es sei denn, ich bitte Sie darum.”
      Er sah sie an, und da war Schmerz und Verwirrung und eine stille Frage in seinen Augen.  „Warum?” flüsterte er.
      „Warum was?”
      „Warum haben Sie mich zum Dinner eingeladen?”
      Sie lächelte erneut.  „Sie werden es herausfinden, wenn Sie kommen.”
      „Acht Uhr,” flüsterte er und sie nickte.  „Ich werde da sein.  Und.... danke.”
      Sie sah ihn an und bemerkte die pure Angst, die hinter seinen Augen lag.  Er schrie dort beinahe.  Hinter der Fassade, hinter dem Leibwächter oder dem Krieger, war eine Existenz aus bloßem Schmerz.  Langsam, sanft, berührte sie ihn.  Er machte keine Geste, keinen Laut, statt dessen schien er ihre Berührung, sowohl physisch als auch mental, willkommen zu heißen.  Sie zog langsam ihren Handschuh aus und berührte seine Wange....
      „Oh, Miss Alexander.  Es ist schön, Sie hier so früh zu sehen.  Ihr Pflichtgefühl ist willkommen.”  Lyta sprang zurück, als wäre sie von einer PPG getroffen worden.  Überrascht drehte sie sich um und sah Welles dort stehen.  Er blickte sie einfach an, seine Arme gekreuzt, sein Ausdruck.... geduldig.  „Ich habe Sie nicht innerhalb der nächsten drei Stunden erwartet, und ich wäre sehr interessiert zu erfahren, wie Sie an Mr. Morishi vorbeigekommen sind.  Aber es spielt keine Rolle, es ist gut, daß Sie einen solchen Enthusiasmus zeigen.  Folgen Sie mir.”
      Er lief an ihr vorbei und sie blickte auf Marcus.  Langsam, niemals ihren Blick von ihm abwendend, zog sie ihren Handschuh wieder an.  Der Schmerz und die Verwirrung waren immer noch da.  Er blickte schnell weg.  „Ich werde da sein,” sagte er erneut.
      Lytas Lächeln, als sie Welles in Delenns Zelle hineinfolgte, war völlig anders als ihr normales Lächeln.  Diesmal lag ein echtes Glücksgefühl darin.

*    *    *    *    *    *    *

„Wir können die Möglichkeit nicht ignorieren, William,” brüllte Präsidentin Crane.  „Die Gefahr ist sehr real, glauben Sie mir.”
      „Aber Frau Präsidentin,” entgegnete General Hague, obwohl er wußte, daß er verdammt war, sobald er den Satz begonnen hatte, „die Narn haben sich in der Vergangenheit als vertrauenswürdige Verbündete erwiesen.  Sie jetzt zu verlassen....”
      „Vertrauenswürdig, sagt er!” spottete Vize-Präsident Clark.  „Sie geben uns keine militärische Unterstützung, trotz unserer Hilfe in ihrem Krieg mit den Centauri.  Sie verkaufen uns Waffen zu erpresserisch hohen Preisen, und nur dann, wenn es ihnen paßt.  Sie regieren über unsere Leute in unseren Kolonien, und besteuern sie fast zu Tode.  Und dann erwarten sie unsere automatische Hilfe, wann auch immer sie in ein Gefecht mit den Centauri, den Tuchanq oder den T'llin geraten.  Wenn das Ihre Auffassung von einem vertrauenswürdigen Verbündeten ist, General Hague, würde ich es hassen, ihre Auffassung von einem Feind zu sehen.”
      „Der Feind sind die Minbari, wie Sie genau wissen, Vize-Präsident, und wenn ich eine Wahl zwischen den Minbari und den Narn hätte, würde ich die Narn wählen.  Wenn es ihre Intervention nicht gegeben hätte, wäre es wahrscheinlich, daß wir nicht einmal hier wären.”
      „Das mag wohl sein, William,” erwiderte Crane, „aber die Centauri mögen sich als bessere Verbündete herausstellen.  Sie bitten um wenig, und versprechen eine Menge.”
      „Frau Präsidentin, die Centauri können die Narn nicht besiegen.  Das ist eine Tatsache, und Sie sollten sie zur Kenntnis nehmen.  Noch können die Narn die Centauri besiegen, und wir, wie die Dinge liegen, könnten froh sein, einen Planeten voller Teddybären zu besiegen!  Wenn wir unsere vernachlässigbare militärische Stärke den Centauri anbieten, dann werden sie uns nicht unsere Kolonien zurückgeben, weil sie nicht in der Lage dazu sind.  Was passieren würde, wäre, daß die Narn uns sehr wahrscheinlich an die Minbari verkaufen würden, und dann würde es Proxima Drei genauso ergehen wie der Erde.”
      „Aber die Narn haben uns um militärische Unterstützung in ihrem nächsten Krieg gegen die Centauri gebeten,” sagte Clark.  „In Anbetracht der Tatsache, daß der nächste Krieg wahrscheinlich entweder dieses oder nächstes Jahr ausbricht, werden wir sie entweder geben müssen oder uns mit den Centauri verbünden und das....”
      „Wie auch immer, Vize-Präsident,” unterbrach Hague, „der Punkt ist strittig, wenn die Minbari uns zuerst auseinandersprengen.  Sie haben alle die Berichte gelesen, die Mr. Welles von seinem Verhör unserer Minbari-Gefangenen gemacht hat.  Der Grund, warum sie sich bis jetzt von jeder entscheidenden Attacke zurückgehalten haben, liegt an dem Machtkampf in ihrem Grauen Rat.  In Anbetracht der Tatsache, daß die Hälfte dieses Machtkampfes nun in unserem Gefängnis liegt, ist es wahrscheinlich, daß dieser.... Sinoval.... den Grauen Rat übernehmen und den Krieg geradewegs hierhin bringen wird.”
      „Das Problem, wenn ich so dreist sein darf, es zu sagen,” sprach General Takashima, General Franklins frühere Stabschefin, die nach Franklins Tod zur Widerstandsregierung berufen worden war, „liegt weder bei den Minbari, noch bei den Narn, sondern bei unserem Militär.  Wie Sie alle wissen, besteht unsere militärische Stärke fast ausschließlich aus Captain Sheridan und seiner Babylon.  Wir haben weder die Ressourcen noch das Geld, um neue schwere Kriegsschiffe zu bauen, und die Narn wollen uns nichts in dieser Größe verkaufen.  Wir schaffen es kaum, Sheridans Starfury-Verluste zu ersetzen.  Und Sheridan.... hat seinen eigenen Kopf.  Es macht wenig Sinn für uns, zu debattieren und zu streiten, wenn der tatsächliche Kopf unserer Armee beschließt, einfach alles zu ignorieren, was auch immer wir ihm sagen, wie er es schon bei vielen Gelegenheiten gemacht hat.”
      „Genau,” sagte Hague und starrte auf Takashima, und nicht weniger auf Clark.  Es war wohlbekannt, daß Clark Takashima in der Tasche hatte.  „Ich denke, hier könnten unsere Verbündeten ins Spiel kommen.  Sie haben alle Lieutenant Ivanovas Bericht gelesen, nehme ich an.  Sie hat uns völligen und bedingungslosen Beistand von dieser mysteriösen Alien-Rasse angeboten.  Alles, was sie anscheinend wollen, ist in Frieden zu leben, und wenn das bedeutet, die Minbari auszulöschen, dann soll es so sein.  Sie will eine Antwort, und ich muß sie ihr geben.  Ich bin mir sicher, daß ich Sie nicht an die schiere Macht dieser Aliens erinnern muß, oder?”
      „Nein,” sagte Crane.  „Das müssen Sie nicht.  Es ist ihre schiere Macht, die mir Angst macht.  Wir wissen nichts über diese Rasse.  Wir haben keinen Botschafter oder Gesandten gesehen, nur diese Lieutenant Ivanova.  Sie bietet uns die Hilfe einer Rasse an, die niemand von uns je gesehen hat, um die Minbari auszulöschen.  Wenn sie so mächtig sind, warum haben sie das dann nicht schon selbst gemacht?  Und ich bin nicht die einzige, die Zweifel über diese Aliens hat.  Captain Sheridan hat formell seinen.... Verdacht geäußert....”
      „Sie sind eine Närrin, Marie,” schnappte Clark.  „Und Captain Sheridan hat einfach nur Angst, daß er nicht länger unentbehrlich sein wird.  Sie bieten uns die größte Hoffnung, die wir kriegen können, um diesen Krieg zu beenden.  Wir müssen ihnen nicht trauen.  Wir müssen uns lediglich mit ihnen verbünden.”
      „Ich stimme zu,” sagte Takashima.
      Crane blickte auf die anderen, die entweder nickten oder ihre Zustimmung aussprachen.  Sie wußte, wann eine Sache verloren war, wenn sie eine sah.  „Nun gut.  Sagen Sie Lieutenant Ivanova, daß wir ihr Angebot für ein Bündnis akzeptieren, aber sie muß auf Proxima Drei bleiben, und sie muß dieser Versammlung Rede und Antwort stehen über die Aktionen ihrer Verbündeten.  Sie sind dafür verantwortlich, William.  Haben Sie verstanden?”
      „Perfekt, Frau Präsidentin.”

*    *    *    *    *    *    *

Sheridan hatte Welles' brutalem Verhör von Delenn mit stillen, starrenden Augen zugesehen.  Er hatte zugesehen, als Welles, tretend und schreiend, jede Information aus ihr herausgezerrt hatte.  Er hatte sie nie geschlagen, sie nie angerührt, ihr nie physischen Schaden verursacht, aber er hatte es geschafft, alles, was sie war, und alles, woran sie glaubte, niederzureißen mit lediglich ein paar gut gewählten Worten.  Er hatte von der Erde gesprochen, von zerstörten Träumen, und verlorenen Seelen und gebrochenen Geistern.  Er hatte von unzähligen Toten gesprochen, er hatte von dem Herz der menschlichen Rasse gesprochen - dem Planeten Erde - und wie er nun für immer fort war.
      Und dann war er in Schweigen verfallen, und hatte Delenn in ihrer Schuld zurückgelassen.  Und dann hatte er ihr Fragen gestellt: Truppenbewegungen, Armee-Organisation, Versorgungslinien, Technologie.  Jede Information, die sie gegeben hatte, wurde von Miss Alexander, die wiederholt in Delenns Verstand eindrang, verifiziert.
      Die ganze Sache dauerte einige Stunden, während welcher Welles Informationen freilegte, die monatelange Aufklärungsoperationen und hunderte von Leben beansprucht hätten.  Sheridan erkannte die Gleichung, aber er fühlte sich immer noch angewidert von dem, was er miterlebt hatte.  Welles hatte Sheridans Blick, der sich in seinen Hinterkopf bohrte, scheinbar keine Beachtung geschenkt.  Das war für Sheridan einfacher, als Delenn anzusehen.
      Als es vorbei war, hatte Welles gegähnt und war aufgestanden.  Er betätigte einen Schalter, bei dessen Bewegung Delenn hochfuhr, und dann salutierte er Sheridan und ging hinaus.  Sheridan starrte ihn einfach nur an, und blickte dann auf Lyta.  Sie sah verstört und ermüdet aus, und ihr Gang beim Hinausgehen war langsam und zögernd.
      Sheridan blickte auf Welles' Stuhl, und setzte sich dann auf den Tisch.  Er deaktivierte den Schalter, den Welles angemacht hatte.  Er wußte, was dieser bewirkte.  Er sandte in variierenden Abständen kurze, irritierende Elektroschocks durch Delenns Stuhl.  Ein Mittel, um sie am schlafen zu hindern.  Schlafentzug war die älteste Form von menschlicher Folter.
      „Warum haben Sie das getan?” fragte Delenn.
      „Ich mag keine Folter,” war seine scharfe Antwort.  „Ich mag.... mochte nicht, was ich eben sah.”
      „Kriegsglück,” sagte sie rauh.  „Hätten Sinoval oder Kalain Sie besser behandelt?  Vermutlich nicht.”
      „Aber ich bin nicht sie.  Wenigstens hoffe ich das.”
      „Sie werden Ärger bekommen,” sagte sie.  „Sie werden wissen, daß Sie mir Essen bringen ließen.”
      „Es ist mir egal.  Was können sie mir tun?  Ich bin ihre einzige Hoffnung, und sie wissen es.”  Sie lächelte leicht.  „Was?” lachte er.  „Was?”
      „Sie erinnern mich manchmal an Neroon.  Er auch, aber er sieht und klingt lediglich wie Neroon.  Sie verhalten sich wie er.”
      „Wirklich?”  Sheridan versuchte diese Information zu verdauen.  „Ist das gut oder schlecht?”
      „Gut.  Definitiv gut.”
      „Oh, danke.” Er hielt wieder inne und blickte sie an.  Manchmal schaffte er es beinahe zu vergessen, was sie war, und was sie getan hatte.  Beinahe.  „Da.... da gibt es etwas, was ich Sie fragen muß.  Ich weiß nicht, ob es einen Sinn ergibt, aber ich .... habe einfach das Gefühl, daß ich Sie bereits kenne.  Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll.  Wenn ich Sie ansehe, sehe.... ich keine Minbari.... ich sehe Sie.  Falls das irgendeinen Sinn macht.”
      Sie lächelte wieder.  „Wir glauben, daß Seelen über viele Lebenszeiten gemeinsam wandern, um die guten Beziehungen nochmals zu leben und die schlechten zu verbessern.”
      „Was?  Sie denken, daß dieses verrückte Gefühl daher kommt, daß unsere Seelen einer Art von.... verwobenem kosmischen Kreislauf folgen?”
      „Ich kenne den Ausdruck nicht, aber es wäre möglich.”  Sie blickte plötzlich auf, zu der Wache, die leise an der Tür stand.  Sheridan bemerkte ihren Ausdruck, und zeigte dem Wachmann eine scharfe Geste.  Der sah unglücklich aus, aber er ging hinaus.  „Captain, ich fühle.... daß.... ähm, es gibt etwas, daß ich Ihnen sagen sollte.... etwas, das sie nicht aus mir herausbekommen konnten.  Wir.... ähm, das ist kompliziert.  Wir glauben, daß die Seelen aus jeder Generation in die nächste hineingeboren werden, daß, wenn jemand von uns stirbt, seine oder ihre Seele in jemandem untergebracht wird, der danach kommt.  Haben Sie auch einen solchen Glauben, Captain?”
      „Ich.... früher.... denke ich.  Ich hörte auf, an irgendwas zu glauben, als ich die Erde zum letzten Mal sah.”  Seine Worte waren nicht verletzend gemeint, aber dennoch taten sie es.  Sie neigte ihren Kopf, und brauchte ein paar Augenblicke, bevor sie wieder sprechen konnte.
      „Aber in den letzten tausend Jahren schien jede Generation.... weniger zu sein als ihre Vorgänger.  Weniger von uns wurden geboren, und die nachfolgenden scheinen denen unähnlich zu sein, die davor kamen.  Fast so, als ob deren Seelen verschwinden würden.  Und.... unser großer religiöser Führer Valen ließ gewisse Prophezeiungen für die Zukunft zurück, Prophezeiungen über die Wiederkehr des Alten Feindes, über Feuer und Dunkelheit und über die Notwendigkeit, sich mit der anderen Hälfte unserer Seele zu vereinen, oder wir würden zerstört werden.  Ich konnte niemals herausfinden, was er damit gemeint hatte, aber als ich Sie und Sinoval bei der Konfrontation sah, wußte ich es, denke ich.
      „Diese Worte grenzen an Blasphemie, Captain, aber ich kann sie nicht länger ignorieren.  Ich.... Ich denke, daß unsere Seelen zu Ihnen gingen.”
      „Was?  Das.... das ist absurd.  Oder nicht?”
      „Ich weiß es nicht.  Ich.... Ich hätte das auch gedacht, aber.... da gibt es noch etwas anderes.  Als ich ein Kind war, sah ich eine Vision von Valen.  Ich wurde von meinen Eltern getrennt, verirrte mich und versteckte mich in einem verlassenen Tempel.  Ich sah dort eine Vision von Valen, der sagte, daß er nicht zulassen würde, daß mir ein Leid geschieht.  Unsere Prophezeiungen beschrieben Valen immer als Minbari, aber nicht von Geburt an.  Als ich vor nicht langer Zeit verhört wurde, hatte ich eine weitere Vision.  Ich denke, Valen war ein Mensch.”
      Sheridan öffnete seinen Mund, aber er fand nichts, was er sagen könnte.  Das alles klang so absurd.  Schließlich sagte er:  „Wir beherrschen die Raumfahrt erst seit etwa hundert Jahren.  Nach allem, was ich gehört haben, war Valen viel früher da.”  Sie nickte.  „Wie ist das möglich?”
      „Ich weiß es nicht, aber das ist alles, was ich mir denken kann.  Ich.... war auf dem Weg, diese Theorie zu testen, als ich Ihnen und... der anderen über den Weg lief.”
      „Es testen?”  Seine Augen verengten sich.  „Wie?”
      „Es gibt.... ein Artefakt, wir nennen es das Triluminarium.  Tatsächlich gibt es drei.  Ich hatte mir eines ausgeliehen.  Sie können für einen telepathischen Scan benutzt werden, oder um.... eine Seele zu studieren.  Ich wollte Ihre Seele studieren, Captain, und herausfinden, ob das, was ich glaube, wahr ist.”
      „Ein Triluminarium?  Meinen Sie so etwas?”  Sheridan angelte in seiner Tasche und zog ein dreieckiges Objekt heraus, welches aus einem Metall bestand, das er nicht identifizieren konnte.  Sie nickte, ihr Mund stand vor Überraschung offen.  „Ich habe es Ihnen damals abgenommen.  Denken Sie wirklich, daß ich eine Minbari-Seele habe?”
      „Ich weiß es nicht.  Ich.... Ich habe Angst, Captain.  Wenn das wahr ist, dann kommt der Krieg mit dem Feind schneller, als jemand von uns gedacht hätte.  Ich fürchte mich vor dem, was passieren wird, wenn ich nicht da bin, um gegen sie zu führen.”
      „Ah.  Also das ist es.  Ich nehme an, Sie erwarten nun, daß ich Sie laufen lasse, oder?  Daß ich Sie zurück nach Minbar schicke?  Daß ich sogar unsere neuen Verbündeten sausen lasse?”
      „Captain, bitte!  Sie müssen doch .... Zweifel.... über sie haben?”
      Er hielt inne, und nickte dann langsam.  „Ja, aber im Augenblick ist es mir egal.  Ich denke wirklich, daß Sie an das glauben, was Sie sagen, aber Sie haben im Moment keine Macht über die Minbari.  Früher oder später wird Ihr Volk uns angreifen, und wir werden bereit sein müssen.  Wenn das bedeutet, einen Pakt mit dem Teufel zu machen, dann soll es so sein.  Wir werden genug Zeit haben, uns um unsere neuen Freunde Gedanken zu machen, wenn wir in Sicherheit sind.”
      „Dann wird es zu spät sein.”
      „Es ist niemals zu spät.”  Er steckte das Triluminarium in seine Tasche und trat zurück.  „Ich muß gehen und mein Schiff kontrollieren.  Wir werden in ein paar Tagen auf Grenzpatrouille fliegen, und ich muß sichergehen, daß alles in Ordnung ist.”
      „Ich.... ja.... Ich verstehe.  Danke, Captain.”
      Er sagte nichts, als er hinaus ging.

*    *    *    *    *    *    *

Lyta blickte auf den sorgfältig vorbereiteten Tisch und nickte leise.  Perfekt!  Sie trug ihr grün-braunes Lieblingskleid.  Das Mahl war gekocht und stand bereit - obwohl dem Essen beträchtlich was fehlte, was an den armseligen Plantagen und hydroponischen Anlagen hier lag - aber es würde genießbar sein.  Außerdem war es die Gesellschaft, die den Abend erträglich machen würde.  Angenommen, der Besucher kam überhaupt an.
      Fünfundzwanzig Minuten nach acht - oder um 2025, wie sie es wohl nennen sollte - tat er es.  Er trat langsam ein, als ob er eher einen Raum voller Minbari betreten würde als das Zuhause einer - sehr schönen, wie sie in ihrer völlig unvoreingenommenen Meinung dachte - Frau.  Er blickte sich langsam um und reichte ihr eine Flasche.  Sie las das Etikett durch und lächelte.
      „Orangensaft.  Danke.”
      „Es, ähm, gibt nicht viele Plätze, wo man etwas zu trinken finden könnte.  Und ich mußte warten, bis Captain Sheridan auf die Babylon zurückkehrte, bevor ich anfangen konnte zu suchen.”
      „Es ist wunderbar.  Es ist praktisch unmöglich, hier echten Fruchtsaft zu finden.”
      „Es ist nicht.... unbedingt....”
      „Sie haben überlegt, nicht zu kommen, oder?”
      „Scannen Sie mich?”
      „Nein,” log sie.  „Reine Beobachtung.  Ich bin nicht so eindrucksvoll, stimmt's?”
      „Doch.... es ist nur.... warum haben Sie mich hergebeten?  Sie kenne mich kaum.”
      „Ich finde Sie sehr interessant, und das passiert mir nicht oft.  Ich bin.... an Ihnen interessiert.”  Er sah aus, als ob er jede Sekunde aufspringen und wegrennen würde.  „Kommen und setzen Sie sich.  Das Essen wird kalt werden.  Und ich habe eine wirklich nette Flasche mit Centauri-Brandy.  Viel netter als das Narn-Zeug.”
      „Ich.... trinke.... keinen Alkohol,” sagte er vorsichtig.  Sie sah ihn an und verfluchte sich leise.  Sie konnte es fühlen, gleich unter der Oberfläche, die sich auftürmende Wut, angefeuert durch Alkohol und genährt durch Haß.  Er war.... früher ein Alkoholiker gewesen.
      „Das ist in Ordnung,” sagte sie.  „Wir werden Ihren Orangensaft versuchen.”
      Er hatte während des Mahls schweigsam gegessen, ihre Konversationsversuche ignoriert oder kurze, einsilbige Antworten gegeben.  Sie hatte es vermieden, ihn über seine Familie zu befragen - sie konnte den Verlust in seinem Verstand spüren - aber sie wußte über das Vega 7-Massaker.  Zumindest wußte sie, was berichtet worden war.  Sie wußte ebenso, daß das, was berichtet worden war - um es gelinde auszudrücken - entweder eine wohlüberlegte Lüge, oder ein ernsthafter Fehler in Bezug auf die Wahrheit war.
      Sie nahm die Gelegenheit wahr, eine Anzahl schneller, beiläufiger Scans zu machen.  Er schien es nicht zu bemerken, und sie hatte sich bemüht, unentdeckt zu bleiben.  Er war wütend.  Dicht unter der Oberfläche floß eine heftige, brandende Wut, gerichtet auf die Welt, auf die Minbari, auf.... etwas, das sie nicht wiedererkannte und es auch nicht wollte, aber am meisten auf sich selbst.  Wut und Haß und Angst und Trauer, alles in ein Bündel eingewickelt.  Lyta war mehr als hochinteressiert.  Sie war fasziniert.
      „Hassen Sie die Minbari wirklich so sehr?” fragte sie.
      Marcus fuhr hoch, als hätte er einen Schlag erhalten.  Er blickte sie an, sichtbar unsicher, was er sagen sollte.  Sie richtete ihren Kopf leicht auf, und setzte das lieblichste, freundlichste Lächeln auf, das sie zustande bringen konnte.
      „Sie nahmen alles weg, womit ich geboren wurden,” flüsterte er.  „Sie nahmen mir mein Erbe, meine Träume, meinen Grund zum Leben, die beiden einzigen Leute, die mir jemals etwas bedeuteten.  Ja, ich hasse sie.  Sie nicht?”
      „Ich weiß es nicht.  Ich habe niemals richtig darüber nachgedacht.  Was geschehen ist.... ist geschehen.  Habe ich Freunde auf der Erde verloren?  Ja.  Familie?  Ja.  Aber.... Haß wird sie nicht zurückbringen.  Die Minbari zu töten wird sie nicht zurückbringen.  Das Psi Corps wurde mit der Erde zerstört, und es war mein Grund zum Leben.  Das Corps ist Mutter, das Corps ist Vater.  Ich wurde vom Corps aufgezogen und vom Corps angekleidet, und nun ist es weg.  Aber.... nur weil das Corps nicht länger existiert, heißt es nicht, daß ich aufhören muß, das zu sein, was sie aus mir gemacht haben.  Ich diene der Widerstandsregierung, weil es mir einen Zweck, und einen Grund zum Leben gibt.  Alles, was Sie tun müssen, ist, Ihren Grund zum Leben zu finden.”
      „Ich habe einen,” brachte er hervor.
      „Nein, es tut mir leid, Marcus, aber ich denke nicht, daß Sie je einen hatten.  Sie sind bei Captain Sheridan, weil Sie hoffen, einen Ort zum Sterben zu finden.”  Sie lächelte, diesmal traurig und bittersüß.  „Sie brauchen einen Grund, um zurück zu kommen.”  Langsam griff sie über den Tisch und berührte seine Wange mit ihren behandschuhten Fingern.  „Und ich.... ich denke, daß auch ich etwas brauche.  Ich brauche es, Leuten zu helfen.  Ich kann Ihnen helfen.”
      „Haben Sie diese Dinge in meinem Verstand gelesen?”
      „Nein,” log sie erneut.  „Ich bin bloß.... ich habe über die Jahre gelernt, Leute zu beobachten.  Es macht das, was ich tue, einfacher.  Ich könnte Ihren Verstand betreten, wenn Sie mögen.  Ich könnte Ihnen helfen, aber nur, wenn Sie es wollen.”
      „Keiner kann mir helfen.  Kein einziger.  Nicht einmal Sie.”
      „Was ist mit Captain Sheridan?  Ah, ich dachte mir schon, daß das eine Reaktion hervorrufen würde.  Er ist genauso schlimm wie Sie, Marcus.  Schlimmer, wenn überhaupt.  Halten Sie sich von ihm fern.  Früher oder später wird er eine Selbstmordmission starten, von der er nicht wiederkommt, und ich will nicht, daß Sie ebenfalls nicht zurückkommen.”
      „Warum?  Nur weil Sie.... mich interessant finden.”
      „Ihr Tod wäre eine Verschwendung.  Ich denke, daß Sie dem Leben immer noch viel anbieten können.”
      „Das einzige, das ich irgendjemanden anbieten kann, ist mein Tod.  Nehmen Sie mir das nicht weg.”
      „Ich muß, Marcus.  Ich.... Ich kann fühlen, daß Sie niemals viele Freunde hatten, stimmt's?  Nur wenig Leute, die sich sorgten.  Immer der einsame Wolf?”  Er nickte und blickte weg.  „Ich bin bereit zuzuhören, und zu reden, und da zu sein.  Wenn Sie es wollen.”
      „Warum sorgen Sie sich um mich?  Ich kann nicht glauben, daß Sie so viel anbieten würden....”
      „Vielleicht, weil auch ich einsam bin.  Weil ich so viele Leben gelebt habe, die anderen Leuten gehören, daß ich nicht weiß, wo mein eigenes beginnt.  Oder vielleicht liegt es daran, daß mein Grund zum Leben einfach nicht genug ist.”
      Marcus stand auf.  „Ich denke nicht, daß Sie mögen würden, was Sie in meinem Verstand finden.  Danke für das Essen, aber ich muß gehen.”  Er ging zur Tür.
      „Marcus!”  Er drehte sich um.  „Wenn Sie meine Hilfe brauchen, egal wann, fragen Sie einfach.  Ich werde da sein.”  Er wollte etwas sagen, aber dann senkte sich sein Kopf, und er ging.  Lyta starrte auf die Tür, als diese sich schloß, und schüttelte müde ihren Kopf.  „Wie gut, daß ich Herausforderungen mag!”

*    *    *    *    *    *    *

Die Tage vergingen, Tage, die für Delenn gezeichnet waren durch Agonie und Scham, durch Fragen und Antworten, durch Verhöre und Demütigungen.  Sie hatte das Zeitgefühl verloren, aber Sheridan war nicht wiedergekommen, um sie zu besuchen.  Sie nahm an, daß er auf Patrouille geflogen war und sie mit Mr. Welles und Miss Alexander allein gelassen hatte.
      Sie hatte geweint, sie hatte aufgeschrien, sie hatte im Namen Valens geschworen, und um Hilfe gebetet, aber diese war nicht gekommen.  Sie hatte versucht, zu meditieren, sie hatte versucht, sich zu widersetzen, sie hatte versucht, an Neroon, oder Draal, oder ihren Vater, oder Dukhat zu denken, aber keiner von ihnen hatte ihr Trost gebracht.  Sie hatte versucht, an Sheridan zu denken, und das hatte ihr nur Schmerz bereitet.
      Die Tür öffnete sich und sie blickte auf und erwartete, die Telepathin zu sehen.  Welles befragte sie gerade über die Rangers, als er unterbrochen wurde.  Es war Captain Sheridan.
      „Ah, Captain.  Sind Sie gekommen, um wieder zuzusehen?”  Es war Delenn nicht möglich, die Emotion in Welles' Stimme zu identifizieren.  Es war wahrscheinlich, daß es dort keine gab.
      „Nicht so ganz.  Ich werde in ein paar Stunden auf Grenzpatrouille fliegen, und ich werde sie mit mir nehmen.”  Welles hob eine Augenbraue.  „Das steht nicht zur Diskussion.”
      „Da ist immer noch sehr viel Information von ihr zu holen.”
      „Das ist mir egal.  Von nun an werden Sie sie nur befragen, wenn ich anwesend bin.  Sie wird unter voller Sicherheitswache an Bord der Babylon gehalten werden.  Ihre Anwesenheit hier verursacht zu viel Verwirrung.”
      „Ich verstehe.  Mit wessen Ermächtigung machen Sie das?”
      „Mit meiner eigenen, was alles an Autorität ist, das ich benötige.”
      „Ich verstehe.  Und glauben Sie, daß das eine.... geeignete Verwendung für Ihre Autorität ist?”
      „Ja.”
      „Also gut, Captain.  Sie gehört Ihnen.  Ich hoffe bloß, das Sie sich nicht irren.  Sie ist immer noch wertvoll für uns.”
      „Wertvoller für mich.”  Delenn blickte auf und erwiderte seinen Blick zum ersten Mal, seit er hineingekommen war.  Er lächelte, ging auf sie zu und streckte seine Hand aus.  Sie nahm sie und stand auf.  Unter Welles' langsamem, zynischem Blick bewegte sie sich von dem Stuhl weg, halb hinkend, halb getragen, sich auf Sheridans Stärke stützend.
      Als sich die Tür zu dem Raum hinter ihr schloß, und sie in den Korridor hineintrat, fühlte sich so frei wie nie zuvor.
      Sie lächelte.



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