Band 1:  Die andere Hälfte meiner Seele Teil II:  Die Warnung




Kapitel 3


MINISTER Londo Mollari hatte keinen guten Tag.  Seine geliebte Ehefrau Nummer Eins - Timov - war in einer besonders miesen Stimmung und versuchte ihr Bestes, um alle im Umkreis von einigen Meilen zu ärgern.  Bemüht, ihren beißenden Sticheleien und gutgezielten Gläsern zu entkommen, war Londo unabsichtlich über die geliebte Ehefrau Nummer Zwei - Daggair - gestolpert, die ganz klar einen Komplott schmiedete.  Er konnte praktisch sehen, wie sich die kleinen Räder in ihrem Kopf drehten.  Unfähig, mit ihrem offensichtlich falschen Lächeln fertig zu werden, welches es immer noch schaffte, das zu verbergen, was auch immer sie zu verbergen versuchte, hatte er erneut versucht zu fliehen.  Er hatte gehört, daß Daggair bei Treffen mit dieser dreifach verdammten Harpyie Lady Elrisia gewesen war, und er scheute sich vorzustellen, worüber das gegangen war.  Großer Schöpfer, Frauen sollten sich nicht in die Politik einmischen.  Es kam niemals etwas Gutes dabei heraus.  Und die geliebte Ehefrau Nummer Drei - Mariel - war in ihrem Schlafzimmer und dachte nach, was immer ein Grund zur Besorgnis war.  Frauen wurden nicht in dieses Universum gesetzt, um zu denken.
      Und zu allem Übel war der Erste Minister Urza Jaddo abgeschottet in Privattreffen mit dem Imperator - möge der Große Schöpfer alle in die Lage versetzen, sich an seinen Namen zu erinnern.  Turhan war ein großer Mann gewesen, aber sein Sohn war eine solche Null, daß nur wenige Leute ihn jemals bemerkten.  Marrit war im Grunde kein so schlechter Imperator, aber wenn das beste Wort, das man dem obersten Herrscher der gesamten Centaurirepublik geben konnte, ‚kompetent’ war, dann war man in Schwierigkeiten.  Jeder erinnerte sich an die großen Herrscher, und jeder erinnerte sich an die verrückten Herrscher, aber niemanden kümmerten jemals die kompetenten.
      Da sowohl der Premierminister als auch der Imperator den ganzen Tag unerreichbar waren, war Minister Mollari natürlich das Ziel für jeden Kriecher, Parasiten und Schmarotzer überall in der gesamten Stadt, und das waren ziemlich viele Leute.  Nachdem er versprochen hatte, mit dem Imperator über Angelegenheiten zu sprechen, die von Steuern und Importzöllen für Spoo, der Auflösung einer nicht arrangierten Heirat, den Narn-Raidern, die die Centauri-Randwelten angriffen, zu dem Versuch reichten, die Drazi-Kaufleute, die Centauri Prime besuchten, zu zwingen, zur Abwechslung mal in vernünftigen Sätzen zu sprechen, war Londo ziemlich bereit, jemanden zu töten.  Vielleicht sich selbst.
      Der Tag war fast vorbei, und seine Laune wurde zunehmend schlechter.  So schlecht, wie alle diese Parasiten auch waren, waren sie doch seinen Ehefrauen vorzuziehen - und zu einer von diesen würde er in dieser Nacht zurückkehren müssen.  Vor die Wahl gestellt, entweder von Timov den Schädel eingeschlagen zu bekommen, durch Daggair gebadet oder durch Mariel verbrannt zu werden, dachte er, daß Selbstmord sich nach einer viel angenehmeren Wahl anhörte.  Nach einer Weile würde er es vielleicht sogar mögen.
      Und dann kam der letzte Besucher.  Er kannte diesen, obwohl nicht auf die gleiche Weise, auf die er die anderen kannte.  Das hier war ernst, und es bedeutete Unannehmlichkeiten.
      „Mr. Cotto, nicht wahr?” sagte er.  „Ja, ich erinnere mich an Sie.  Also sagen Sie mir, warum hat Ihr Herr und Meister Sie den ganzen Weg von Minbar hergeschickt?  Nicht nur, um die übliche Brigade von Drohungen und Beleidigungen auszutauschen, nehme ich an?”
      Vir sah sich langsam um.  Das hier war ein privater Audienzsaal, und als solcher leer abgesehen von den zwei Wachen, die gelangweilt scheinend an der Tür standen.  „Äh-ähm,” sagte Vir und machte schwache, fast unmerkliche Gesten mit seinen Fingern.
      Londo bemerkte sie und seufzte fast laut auf.  Und er hatte gedacht, daß der Tag nicht mehr schlimmer werden könnte.  „Geht hinaus!” sagte er zu den Wachen.  „Geht schon!  Ich bin mir ziemlich sicher, daß ich mich gegen jegliche Angriffe verteidigten kann.  Ich wurde nicht umsonst Paso Leati genannt, wißt ihr.  Außerdem, sieht so ein Attentäter aus?  Päh!”
      Die Wachen schauten einander an und zuckten die Achseln.  Dann gingen sie.  Londo schaute hinab auf Vir, der immer noch in Gedanken verloren schien.  „Dieser Saal ist nicht.... ähm.... verwanzt, oder?  Oder etwas Ähnliches?”
      „Natürlich nicht!  Das ist ein Audienzsaal.  Die einzigen Leute, die einen Saal wie diesen verwanzen würden, wären diejenigen Leute, die ihn selbst nutzen wollten.  Außerdem überprüfen wir ihn zwischen jedem Treffen.  Ich nehme an, daß Lord Refa nicht wirklich weiß, daß Sie hier sind?”
      „Nicht direkt.  Nun, er weiß natürlich, daß ich hier bin, aber nicht, daß ich... nun... hier bin.  Hier im Sinne von bei Ihnen, natürlich, im Gegensatz zu hier auf Centauri Prime.  Falls Sie verstehen.”
      „Nein,” schnappte Londo.  „Bitte, kommen Sie zur Sache.  Ich hatte einen langen und anstrengenden Tag.  Welche Neuigkeiten gibt es von unserem lieben Mitverschwörer G'Kar?”
      „Der... um...”  Vir blickte immer noch nervös umher.  „Haben Sie von dem Angriff auf die Menschen- und Narnkolonie auf Vega Sieben gehört?”
      „Äh, ja.  Es gab einige wenige Mitglieder in Centaurum, die ziemlich gekränkt waren, daß wir das nicht selbst getan haben.  Der Kha'Ri wird natürlich nicht glauben, daß wir nicht verantwortlich waren?”
      „Ich fürchte nicht.  Es war der... äh.... Feind, von dem G'Kar gesprochen hat.  Die Minbari vermuten es, aber sie sind immer noch ein wenig desorganisiert nach Branmers Tod.  Sie haben ihre eigenen Ranger noch nicht aufgestellt, und überlassen es sozusagen uns... äh... die Fackel am Brennen zu halten.  Der Graue Rat weiß nicht einmal über G'Kars kleines Netzwerk von Agenten.  Wenigstens glaube ich das.”
      „Vir!  Natürlich wissen sie das nicht.  Falls sie es täten, dann würde es Lord Refa wissen, und wenn er wüßte, daß ich hochvertrauliche Centaurum-Informationen ausgerechnet einem Narn gebe, um zu helfen, einen Feind zu bekämpfen, von dem ich nicht mal sicher bin, daß ich an ihn glaube, dann wäre ich schon sehr tot.”
      „Äh, ja.  Bezüglich Lord Refa.  Es mag einige... Unannehmlichkeiten diesbezüglich geben.  Sie wissen ja sicherlich, daß der Graue Rat schon seit geraumer Zeit auf einen weiteren Schlag gegen die Menschen brennt.  Nur politische Nahkämpfe haben das bisher verhindert.  Die vorherrschende Satai aus der Religiösen Kaste namens Delenn ist verschwunden - sie wurde entweder von Captain Sheridan entführt oder hat wegen ihm Treuebruch begangen.  Das sichert der Kriegerkaste die Herrschaft im Grauen Rat, und wahrscheinlich auch über die Ranger, und... vermutlich eine Invasion des Narngebietes, um an die Menschen heranzukommen.”
      „Oh, großer Schöpfer!  Keinen weiteren Krieg!  Ich erhole mich noch immer von dem letzten.”
      „Genau, und der... um... Kha'Ri wird nicht tatenlos zusehen, wenn die Minbari in ihren Raum einfallen..., und die Minbari würden in etwa... ähm... unsere Hilfe wollen.  Ich wurde hergesandt, um diese Dinge mit dem Imperator und dem Ersten Minister zu diskutieren.”
      „Warum ist Refa nicht selbst gekommen?  Nein, antworten Sie nicht.  Er weiß, daß wenn er einen Fuß auf Centauri Prime setzt, er eine Lebenserwartung von einigen Minuten hätte.”
      „Das wäre ein wenig optimistisch für ihn, denke ich.”
      „Also, was will G'Kar, daß ich diesbezüglich unternehme?”
      „Der erste Minister Jaddo ist nicht bei uns, oder?”
      „Das ist er selten.  Das war ein Witz, Vir.”  Vir lachte gehorsam.  „Nein, soweit ich weiß, sind Sie und ich die einzigen Centauri in G'Kars kleinem Spiel.”
      „Nun, G'Kar hätte es gerne, daß Sie den Imperator und den Ersten Minister überzeugen, sich.... den Minbariforderungen zu widersetzen, gegen die Narn in den Krieg zu ziehen.  Wir können es nicht riskieren, das gesamte Gebiet zu destabilisieren, falls der Feind sich entschließt, anzugreifen.  Es gibt wenig, was wir bezüglich des Grauen Rates unternehmen können, und die Menschen sicherlich auch nicht, aber wenn wir es ablehnen, den Minbari Unterstützung zu gewähren, werden sie es sich vielleicht noch mal überlegen.”
      „Oder sie werden uns vielleicht statt dessen angreifen.  Vir, meine Beziehung zu Lord Refa ist nicht gut, wessen sich alle außer meiner geliebten Ehefrau Timov bewußt sind.  Ganz zu schweigen, daß das größte Problem diese Harpyie ist, die Refa geheiratet hat!  Lady Elrisia windet ihre Klauen bereits in unseren kleinen Imperator.”
      „Aber....”
      „Vir, vertrauen Sie mir!  Ich werde tun, was ich kann.  Oh Wahnsinn, warum habe ich mich bloß darauf eingelassen?”
      „Weil Sie genau wie G'Kar das große schwarze Schiff gesehen haben, und weil er Ihr Leben gerettet hat und....”
      „Vir!  Das war eine rhetorische Frage.  Also gut, verschwinden Sie.  Ich werde tun, was ich kann, und nicht mehr.”
      „Ja, Minister.”
      „Äh, Vir, warten Sie einen Augenblick.  Was ist mit diesem Sheridan?  Könnte er ein Problem für uns darstellen?”
      „Äh, nein.  Ich denke, G'Kar hat sich um diese Sache gekümmert.”

*    *    *    *    *    *    *

Genau wie Minister Londo Mollari hatte auch Captain Sheridan keinen guten Tag.  Im Gegensatz zu Minister Mollari hatte er nur eine Ehefrau, um die er sich Sorgen machen mußte, und nicht drei, und Anna war - Gott sei Dank - nicht hier, sondern vermutlich betrunken in irgendeiner Kaschemme auf Proxima 3.  Und als Begleitung hatte er nicht eine Sammlung von Parasiten und Schmarotzern, sondern einen Narn, einen Minbarikrieger und einen bärtigen, britischen Mann mit einem Todeswunsch und einem tiefgründigen Haß auf alle Minbari.  Er war auch nicht in der schmückenden Eleganz des königlichen Centaurihofes, sondern in der unfruchtbaren Wildnis der G'Khorazhar-Berge.  Er war unbewaffnet, und obwohl der Narn - Ta'Lon - ihn nicht spezifisch als einen Gefangenen bezeichnet hatte, war sich Sheridan bewußt, daß jeder Versuch, irgendwo anders hinzugehen - sagen wir mal zurück nach G'Khamazad, um dieser lügnerischen Narnhure Na'Toth die Eingeweide herauszureißen - zu heftigen Schmerzen führen würde.  Der Minbari - Neroon - hatte wenig gesagt, während der Mensch - Marcus - zurückgehalten werden mußte, nachdem er Neroon zweimal angegriffen hatte.
      Aber Sheridan plante sowieso nicht zu fliehen.  Das war, was sie von ihm erwarteten, und er war nicht der Sternenkiller genannt worden, weil er das tat, was die Leute von ihm erwarteten.  Außerdem mußte er zugeben - wenn er nicht gerade die Sonne oder die Minbari, oder diese verdammt hohen Berge verfluchte - daß er neugierig war.  Councillor Na'Toth - die augenscheinlich all' das arrangiert hatte - hatte behauptet zu wissen, wer hinter seinem Verrat auf Vega 7 steckte.  Trotz des gegenteiligen Anscheins war sie es nicht selbst.  Da war ebenfalls die Erwähnung eines Feindes, die die Worte wiedergab, die von Administrator Na'Far geflüstert worden waren, als er starb, und von dem schmerzerfüllten Schrei, der aus Satai Delenns Gedächtnis gerissen worden war.  Und Marcus, dessen geflüsterte Erinnerungen andeuteten, daß die Minbari vielleicht doch nicht hinter dem Angriff auf Vega 7 steckten.  Und dann war da Susan, sie mit ihren sehr mächtigen, sehr mysteriösen Freunden, die ihn aus einem Minbarigefängnis herausgeholt und ihm - und der gesamten Menschheit - die Unterstützung dieser sehr mysteriösen, sehr mächtigen Freunde angeboten hatte, die wahrscheinlich genau der Uralte Feind waren, der sowohl in den heiligen Schriften der Narn als auch der Minbari erwähnt wurde.
      Gelinde gesagt, Sheridan war neugierig.  Fast neugierig genug, um sich zurückzuhalten, diesen Minbarikriegers auf der Stelle abzuschlachten.  Er verdankte den Minbari zu viele Schmerzen, um dieses hinzunehmen, aber dennoch nahm er es hin.
      Nachdem er in der Kammer von Councillor Na'Toth bewußtlos geschlagen worden war, war er in einem kleinen Shuttle auf dem Weg aus der Stadt G'Khamazad heraus aufgewacht.  Neroon, Ta'Lon und Marcus waren die einzigen anderen im Shuttle, und keiner von ihnen war besonders gesprächig.  Nur Ta'Lon hatte den ganzen Tag zu ihnen gesprochen - und das war, als sie auf einer kleinen Militärbasis am Fuße der G'Khorazhar-Berge gelandet waren.
      „Councillor Na'Toth weiß, wer Ihren Verrat angeordnet hat,” hatte er gesagt.  „Kommen Sie mit uns und besuchen Sie Ha'Cormar'ah G'Kar und hören Sie, war er zu sagen hat.  Vielleicht wird Councillor Na'Toth es Ihnen dann sagen.”
      Und so tat er genau das, obwohl mehr aus einem Verlangen, G'Kar zu treffen, als aus irgendwelchen anderen Motiven.  Es gab äußerst wenige Leute, deren Taten so groß waren, daß ihre bloßen Namen durch die Galaxie widerhallten.
      Sheridan selbst war einer von ihnen - immer mit dem Beinamen Sternenkiller - Satai Delenn aus dem Grauen Rat; Satai Sinoval, ebenfalls vom Grauen Rat und Kriegsführer des Windschwerterclans; Kriegsherrin Jha'dur von den Dilgar, Todesbringerin genannt, vermißt, für tot gehalten; General Richard „Feuersturm” Franklin, seit ein paar Jahren tot; und G'Kar, der größte Narnheld in ihrem Krieg mit den Centauri, General und Führer ohne seinesgleichen, der auf mysteriöse Weise aus dem Kha'Ri ausgetreten war, als der Krieg sich seinem blutigen Stillstand näherte, und der seitdem nicht mehr gesehen worden war.  Obwohl sie im gleichen Krieg gekämpft hatten - auf der Seite der Narn - war Sheridan G'Kar nicht begegnet, obwohl er es sehr gern gewollt hätte.
      Als er endlich den Gipfel des Passes erreichte, der hinunter in ein kleines Tal führte, begriff er, daß er vielleicht niemals mehr die Möglichkeit bekommen würde.
      Überall um ihn herum lagen Narnkörper, zerrissen, zerstückelt und verwüstet, zerstört von.... etwas, das weder Mensch, noch Narn, noch Minbari sein konnte.
      Ta'Lon sagte etwas auf Narn zu Neroon, welcher nickte.
      Sheridan sprach Narn, und er stimmte Ta'Lon leise zu. Das war definitiv nicht gut.

*    *    *    *    *    *    *

Der Sicherheitsoffizier Welles fühlte eine leichte Woge der Befriedigung, als er seine Gefangene betrachtete.  Sie war krank, zerlumpt und ausgezerrt, das Feuer, das so strahlend in ihren Augen getobt hatte, war reduziert zu einem bloßen Funken.  Sieben Tage mit Verhören, Hungern und telepathischen Scans hatten geschafft, das zu bewirken.  Sie war das zäheste, widerspenstigste Ziel, das ihm jemals gegeben worden war, aber letztendlich war er am gewinnen, und genau damit half er der menschlichen Rasse.  Der selben Rasse, die sie beinahe zerstört hätte.
      Er blickte hinab auf die Aufzeichnungen vor ihm.  Alle übrigen acht Mitglieder des Grauen Rates.  Sinoval, Hedronn, Lennann, Namen, Kasten, Einzelheiten.  Wer eine Bedrohung darstellen würde, und wer nicht, wer wahrscheinlich an die Macht kommen würde, wer wahrscheinlich in einem Krieg gegen die Menschen führen würde.  Alles detaillierte Berichte.  Sicherlich ein Anfang.  Es gab andere Angelegenheiten zu bedenken, Truppenaufmärsche, die Anzahl, die Organisation der Armeen, Einzelheiten über ihre Technologien, aber das konnte warten.  Er hatte erfahren, daß der Graue Rat in heftigen Meinungsverschiedenheiten gewesen war über die Führung einer Geheimarmee - der Ranger.  Wie hatte Sheridan sie genannt?  ‚Teils Krieger, teils Priester, teils Geheimagenten.’  Ihre Führung war ungewiß, und es würde eine Weile dauern, bis sie die Sache geregelt hatten.  Hoffentlich lange genug, damit er alles in Erfahrung bringen konnte, was er - und die Menschheit - brauchte.
      Es klopfte leicht an der Tür, und sie öffnete sich, ohne daß Welles etwas gesagt hätte.  Herein trat eine attraktive, rothaarige Frau, gekleidet in schwarze Handschuhe und ein Abzeichen, das mehr von Tradition und Ritual zeugte als vor irgend einer richtigen Bedeutung.  Jede Bedeutung des Psi Corps hatte mit der Erde geendet.
      „Guten Morgen, Miss Alexander,” sagte er.  „Ich hoffe, es geht Ihnen gut?”
      „Sehr gut, danke,” sagte sie und nahm den Platz ein, den Welles geräumt und ihr angeboten hatte.  Die Gefangene blickte auf sie mit Augen voller Mitleid... und Verzweiflung.
      „Ihre Schilde sollten diesmal beträchtlich schwächer sein.  Sie könnten vielleicht viel mehr Informationen auf ihr herausholen,” sagte Welles.  „Kümmern Sie sich nicht darum, einen Sinn darin zu finden - das ist meine Aufgabe.  Finden Sie bloß so viel Sie können.”
      „Natürlich.”  Lyta Alexander zog ihre Handschuhe aus und ergriff - sanft und ohne Gewalt - die Hände von Satai Delenn.  Welles schaute zu, als Lyta ihre Augen langsam schloß, voller Konzentration, und Delenn die ihren schloß in Verzweiflung.
      „Sie denkt an jemanden.  Einen Minbari.  Einen dieser Ranger.  Er hatte einmal ihr Leben gerettet und sie... sie hat etwas für ihn empfunden.  Es ist komisch, aber Sie erinnern sie an ihn.  Sein Name.... sein Name war Neroon.  Er hat sie verlassen, oder sie hat ihn verlassen, oder so etwas.  Ein wenig von beidem, denke ich.  Sie scheinen Beziehungen nicht in der gleichen Weise zu betrachten wie wir.”
      Welles nickte, seine fehlerlose Erinnerung speicherte alles, was Lyta sagte.  Er bemerkte die Bestürzung und Qual in Delenns Haltung.
      „Ich kann erneut neun Säulen aus Licht sehen,” flüsterte Lyta.  „Der Graue Rat, aber... es ist ein wenig anders.  Es ist der Krieg, denke ich.  Oh!  Da ist eine Art taktischer Bildschirm, aber es ist wie nichts, das ich je zuvor gesehen habe.  Ich kann... alles um sie herum sehen.  Sie schauen einer Schlacht zu.  Da sind überall Starfuries.  Ich... ich denke, es könnte die Frontlinie sein, aber ich bin mir nicht sicher.  Es scheint überhaupt keine schweren Kreuzer zu geben.
      „Ich...  Oh nein, es ist die Erde.  Sie zerstören die Erde.  Sie sehen zu, wie sie stirbt.  Oh Gott, nein!  Alle sterben.... alle sterben...  ich.... ich kann es nicht mitansehen.”
      „Bitte,” sagte Welles.  „Versuchen Sie es weiter.”
      „Da ist....  Oh mein Gott.... Da ist ein Vorlone.  Sie hat einen gesehen - einen Vorlonen!  Wie sie wirklich aussehen.  Es ist... oh... es ist so wunderschön.... und so hell und so... oh!”
      „Ein Vorlone?  Was tun die denn dort?”
      „Ein.... es ist eine Art Handel.  Die Vorlonen wissen über die Ranger Bescheid.... sie helfen ihnen sogar ein wenig.  Nicht viel, aber ein wenig.  Sie.... sie wollten etwas als Gegenleistung.  Einen Mann.... einen Menschen.... einen Namen.... Valen.  Und... oh... es ist so wunderschön.  Kosh... das ist sein Name.  Kosh.  Der Vorlone heißt Kosh.  Er.... das ist unmöglich.  Ich bin nicht allein hier.  Kosh.... Kosh weiß, daß ich hier bin.  Aber wie?  Wie?  Oh.... so.... wunderschön!”
      Lytas Kopf schnellte zurück und ihre Augen öffneten sich.  Sie waren nach hinten weggedreht.  Sie schwankte und fiel von ihrem Stuhl.  Welles stürzte vorwärts, um sie aufzufangen.  Sie war ganz still, und einen Augenblick lang fürchtete er, daß, was auch immer sie gesehen hatte, sie umgebracht hatte.  Doch sie bewegte sich und schaffte es, sich wieder zurück auf den Stuhl zu schleppen.
      „Das war.... das war.... unglaublich,” flüsterte Lyta.  „Der Vorlone.... es war so.... so....”
      „Sie haben die Schlacht an der Frontlinie gesehen?” fragte er.  Lyta nickte.  „Sie war dort?  Sie war tatsächlich dort?”
      „Ja.  Sie leitete die Dinge.  Nicht unbedingt als Anführer, aber etwas Ähnliches.”
      „Richtig.  Danke, Miss Alexander.  Versuchen Sie herauszufinden, was Sie genau gesehen haben, und liefern Sie mir einen vollständigen Bericht, wenn Sie fertig sind.  Mr. Cutter, bitte begleiten Sie Miss Alexander zurück zu ihrem Quartier.”  Cutter nickte, und das Funkeln in seinen Augen sagte, daß er ebenfalls nichts dagegen hätte, Miss Alexander in ihr Quartier hinein zu begleiten.
      Welles setzte sich zurück in seinen Stuhl und blickte auf Delenn.  Er gähnte und streckte sich.  Er hatte über einen Tag nicht geschlafen.  Delenn hatte noch viel länger nicht geschlafen.
      „Schlafentzug”, sagte er.  „Das ist eines unserer ältesten Verhörmittel.  Sie werden.... desorientiert, verstört, vielleicht halluzinieren Sie sogar.  Natürlich ist es schwer zu gewährleisten, daß Sie niemals einschlafen, deswegen ist der Stuhl, auf dem Sie sitzen, speziell präpariert.  Durch ein Betätigen dieses Knopfes - ” er machte eine übertriebenen Bewegung, als ob er einen Schalter auf der Wand in seiner Nähe betätigen würde „ - starten wir ein Programm zufälliger Elektroschocks durch diesen Stuhl.  Keiner groß genug, um tödlich zu sein, oder sogar viel mehr als ein bißchen irritierend.”  Delenn stutzte und schnappte nach Luft.  „Sie kommen in unregelmäßigen Abständen, zwischen einer und fünf Minuten Länge.  Natürlich werden sie Sie hindern, zu schlafen, oder sich lange genug zu konzentrieren, um vernünftig zu meditieren.  Unglücklicherweise fürchte ich, daß ich Schlaf brauche, und deswegen werde ich nun gehen und mich ausruhen.  Mr. Boggs?  Ich vertraue Ihnen.  Halten Sie sie in Gewahrsam, und halten Sie sie in diesem Stuhl.  Tun Sie ihr nicht weh, es sei denn, es ist absolut nötig, und rufen Sie mich, wenn es ein Problem gibt.”
      Sicherheitsoffizier Boggs nickte.
      Welles erhob sich von seinem Sitz und ging zur Tür.  Als er sie erreichte, sprach Delenn.  „Das Wort, das Sie zu vermeiden versuchten.... war..... Folter,” krächzte sie.  Ihre Stimme war heiser.
      „Wäre das Ihre Hauptstadt, und ich an Ihrer Stelle, wäre ich irgendwie besser dran als Sie?” fragte er kalt.  Sie schüttelte ihren Kopf und schrie dann auf, als ein weiterer Schock sie traf.
      „Sehen Sie es folgendermaßen, Satai Delenn.  Wenn Sie nicht schlafen, dann können Sie auch nicht träumen.  Ich wünschte, bei mir wäre es genauso.  Eine angenehme Ruhe, Satai Delenn.  Mr. Boggs.”
      Und dann war er fort.  Delenn blickte auf ihren einzigen Wächter und weinte fast wegen seiner stillen Teilnahmslosigkeit.  Sie erinnerte sich, wie er ihr weh getan hatte, sie geschlagen und getreten hatte.  Es hatte ihm Freude bereitet, aber er hatte es nicht nur deswegen getan.  Er hatte es für das Wohl seines Volkes getan.  Er wollte nur seinem Volk und seinem Zuhause dienen.
      In Valens Namen, dachte sie bestürzt. Was haben wir erschaffen?  Was habe ich getan?

*    *    *    *    *    *    *

Ta'Lon kniete neben dem Körper und betrachte ihn langsam, während er den entsetzlichen Schaden an ihm studierte.  Er erhob sich und blickte umher auf die anderen Körper, verstreut und verwüstet.  Er war still.  Neroon stand neben ihm und flüsterte etwas über Valen.  Marcus war gebückt und würgte laut.  Und Sheridan.... stand einfach da, sprachlos.  Es erinnerte ihn an Vega 7, aber nicht einmal die Toten dort hatten ihn so berührt wie diese.  Diese Körper waren auseinandergerissen worden, wortwörtlich fast Glied vom Glied gerissen.  Sheridan hatte wenig übrig für Narn, aber niemand verdiente das, nicht einmal Minbari.
      „Was könnte das getan haben?” fragte Marcus.  Er saß blaß aus.
      „Sie sollten es wissen,” antwortete Neroon.  Er hatte seinen Kampfstab auseinandergezogen - ähnlich dem, den Susan Delenn abgenommen hatte.  „Sie haben sie zuvor gesehen.”
      „Das schwarze Schiff?  Das Schiff, das schrie?”
      „Mehr oder weniger.”  Ta'Lon blickte sich noch immer wachsam um.  „Das war einer ihrer Diener.  Ein Krieger, denke ich.”
      Ohne irgend etwas weiter zu sagen, begannen er und Neroon schnell auf das kleine eingezäunte Gelände zuzugehen, welches sich am Ende des Tals befand.  Es sah wie eine Mischung aus Tempel und Burg aus, und Sheridan wußte, daß es der Ort war, wo G'Kar wohnte und von wo er seine Ansammlung von Agenten anführte.
      War das die Tat von Susans Freunden?  Von der letzten Hoffnung der Menschheit?  Warum würden sie....?  Nein, das war eine interne Angelegenheit, sie gegen G'Kar.  Sie würden sich nicht gegen die Menschheit wenden.  Welchen Grund hätten sie denn dazu?
      Dennoch, Susan hatte gesagt, daß ihre Freunde langsam agieren würden, bemüht, die Aufmerksamkeit nicht auf sie selbst zu lenken.  War G'Kar wirklich eine so große Bedrohung, daß sie es riskieren würden, möglicherweise andere auf sich aufmerksam zu machen?
      Sheridan nahm seine PPG heraus und begann zu rennen, um Neroon und Ta'Lon einzuholen.  Marcus war neben ihm, der Ausdruck von Ekel und Angst ersetzt durch eine kalte Wut.  Vielleicht hatten Neroon und Ta'Lon recht, und Marcus hatte diese Wesen zuvor gesehen, auf Vega 7.
      Zu viele Fragen, und nicht genügend Antworten.  Es gab niemals genügend Antworten.

*    *    *    *    *    *    *

Commander David Corwin war gereizt.  Er mochte die Narn nicht, er mochte ihre Heimatwelt nicht und er mochte es nicht, auf der Babylon herumzuhängen.  Er tat viel zu viel davon in letzter Zeit, hing bloß herum, während der Captain irgendwo weg war.
      Doch das hier war schlimmer als sonst.  Der Captain hatte über einen Tag lang nichts mehr von sich hören lassen.  Er hatte nicht geantwortet, als Corwin versucht hatte, seinen täglichen Bericht zu erstatten.  Councillor Na'Toth hatte einfach behauptet, daß Sheridan G'Khamazad auf einer Spionagemission verlassen hatte, und daß er in ein paar Tagen zurückkehren würde.  Corwin war sich nicht sicher, ob er ihr traute, aber er war klug genug, es ihr nicht ins Gesicht zu sagen, auch nicht über einen Bildschirm.
      Das letzte Mal, als er den Captain allein auf einer von Narn regierten Welt gelassen hatte, war Sheridan gefangen genommen worden.  Irgend jemand aus dem Kha'Ri war verantwortlich gewesen, und Corwin war nicht naiv genug anzunehmen, daß das Gleiche nicht wieder geschehen war.  Er hielt Ausschau nach jeglichen Anzeichen für Minbarikreuzer, aber der einzige Verkehr hatte aus normalen Narn-Schiffen bestanden.  Er hatte auch kleine Teams auf den Planeten herunter geschickt, um zu ermitteln.  Bisher hatte er noch von keinem von ihnen wieder etwas gehört.
      „Commander!” sagte Lieutenant Franklin plötzlich.  „Hier ist eine private Nachricht für Sie.  Sie ist von Miss Ivanova.”
      „Susan!”  Susan war mit Sheridan und Marcus auf den Planeten runtergegangen.  Sie hatte ebenfalls seit gestern nichts von sich hören lassen.  Falls Corwin zum Bereitschaftsraum ein wenig schneller rannte, als es sicher oder angemessen war für einen seines Ranges, so machte keiner eine Bemerkung diesbezüglich.  Was zwischen ihm und Susan gewesen war, war vorbei, richtig?  Es hatte geendet, als sie gestorben war.
      Er rutschte in seinen Sitz im Bereitschaftsraum und aktivierte den Bildschirm.  Susans Gesicht starrte ihn daraus an.  Er widerstand dem Drang, einfach nur in ihre Schönheit zu starren, und konzentrierte sich darauf, was er sagen mußte.  Das war wichtig.  Es betraf den Captain.
      „Was ist passiert?” fragte er.  „Councillor Na'Toth sagte....”
      „Was auch immer Councillor Na'Toth gesagt hat, war vermutlich eine Lüge,” unterbrach ihn Susan.  „Ich weiß nicht, was passiert ist, aber sie hat John reingelegt.  Er ist nicht mehr in G'Khamazad, dessen bin ich mir sicher, aber ich weiß, daß er noch lebt.”
      „Du weißt es?  Wie?”
      „Ich....”  Sie blickte gequält.  „Ich kann nicht näher darauf eingehen.  Ich weiß es einfach.  Ich werde versuchen, ihn ausfindig zu machen.  Ich denke nicht, daß diesmal irgendwelche Minbari darin verwickelt sind.  Es ist vermutlich etwas Politisches innerhalb des Kha'Ri.  Vielleicht sind sie nicht länger gewillt, uns zu beherbergen.  Mach dir keine Sorgen, David, ich werde tun, was ich kann.  Bitte komm nicht herunter.  Du bist dort oben sicher.  Du bist es hier unten nicht.”
      „Susan!  Ich... sei vorsichtig.”
      Sie lächelte.  „Danke.  Du auch.  Ich werde so oft ich kann in Kontakt bleiben.  Aus.”
      Susan schaltete ihren Bildschirm aus und blickte umher in Zorn und Bedauern.  Neben ihr bewegte sich ein Schatten.

*    *    *    *    *    *    *

G'Kar wußte, daß er im Sterben lag, daß der Feind letztendlich zu ihn gekommen war.  Er hätte Fragen stellen können, darüber, wie sie ihn gefunden hatten, warum sie über ihn Bescheid wußten, wieso er immer noch am Leben war, aber Fragen waren im Augenblick sinnlos.  Was zählte, war Überleben, nicht nur seines, sondern das Überleben von dem, was er aufgebaut hatte.
      Er betastete seine Wunde sanft und behutsam.  Er schien älter zu werden.  Eine kleine Wunde wie diese hatte niemals weh getan, als er gegen die Centauri gekämpft hatte.  Oder doch?  War ein Zermürbungskrieg wie jener vorzuziehen einem leisen, geheimen Krieg wie diesem?
      „G'Quan möge mich führen,” flüsterte er, als er in die Schatten seines kargen Zimmers tauchte.  Das Buch des G'Quan lag auf dem Tisch auf der anderen Seite des Zimmers.  Er blickte darauf sehnsüchtig und begann die darin geschriebenen Worte zu flüstern.
      „Es gibt eine größere Dunkelheit als die, die wir bekämpfen.....”  Er hatte die Bestie verwundet, das wußte er.  Deswegen war er immer noch am Leben.  Das Messer hatte er irgendwo fallen lassen, während seiner Flucht.  Die Bestie, sie konnte überall sein.  Er hatte sie in ihrem kurzen Augenblick der Sichtbarkeit als einen der Diener des Feindes erkannt, von dem G'Quan gesprochen hatte.
      Da war eine Bewegung draußen vor der Tür, und er blickte sich im Zimmer verzweifelt nach einer Waffe um.  Seine Zimmer waren fast ummöbliert.  Wo war sein Verbündeter?  Der Vorlone war irgendwo in der Nähe, aber niemals, wenn er gebraucht wurde.  Sicherlich hatte G'Lan die Ankunft seines alten Feindes gespürt.  Es sei denn, er konnte sich nicht einmischen.  Ja, vielleicht war es das.  Vielleicht war das ein Test für G'Kar, eine Prüfung, ob er würdig war, dem Feind gegenüberzutreten.
      Da war ein Schimmern, als die Bestie durch die Wände kam, und er rollte zur Seite, während er wegen der Schmerzen von seiner Wunde zusammenzuckte.  Er konnte undeutlich die Umrisse des Schattenkriegers vor ihm sehen.  Er hatte keine Waffen mit langer Reichweite, wenigstens war das etwas, für das er dankbar sein konnte.  G'Kar hatte Hoffnung.  Er hatte immer Hoffnung.
      Er griff nach den Kerzen und riß eine herunter.  Sie war noch immer angezündet.  Eine armselige Waffen, aber alles, was er hatte.  Er stieß mit ihr vorwärts und trieb die Bestie zurück.  Sie gab ein scheußliches Gebrüll von sich.  Er blickte auf ihre abscheuliche Gestalt und flüsterte ein leises Gebet zu G'Quan.
      Es half nicht.  Die Kerze brach und fiel, das wenige Licht, das sie gab, erlosch.  G'Kar versuchte, seinen Stoß anzuhalten, aber es war zu spät.  Die Bestie ergriff ihn und riß ein Loch in seine Seite.  Ein schmerzerfüllter Schrei entfuhr seinen Lippen, als er nach hinten geworfen wurde und sein Rücken gegen den Steintisch schmetterte.  Er stürzte auf den Boden und blickte auf.
      Da war das Geräusch von PPG-Feuer und ein Schrei im Namen Valens und G'Quans.  G'Kar lächelte.  Sein Gebet hatte schließlich doch geholfen

*    *    *    *    *    *    *

Satai Delenn war versunken in vergangenen Tagen, in Erinnerungen an den Krieg, in Erinnerungen an ihren Aufschrei.  „Tötet sie!  Tötet sie alle!”  Sie erinnerte sich, wie das Licht in Neroons Augen erloschen war, als er sie verließ.  Sie erinnerte sich an die Weisheit in Draals Rede.  Sie erinnerte sich....
      Sie keuchte, als ein weiter Schlag sie traf.  Sie blickte auf und sah Boggs dort leise stehen.  Er genoß ihren Schmerz, aber er zeigte es nicht nach außen.  Delenn ergriff die Tischkante und versuchte, die Luft einzusaugen. Ihre Atmung war hart und unregelmäßig.
      Sie glitt zurück in die Vergangenheit.
      „Ich habe Dinge gesehen,” hatte Neroon gesagt.  „Ich bin dort beinahe gestorben.  Ich war allein und fürchtete mich, und dachte an dich.  Ich dachte an die dritte Nacht des Sleepwatching-Rituals, dachte an....”
      Ein weiterer Schlag, aber sicherlich zu früh?  Konnte sie ihr Zeitgefühl behalten.  Konnte sie sich überhaupt noch an Zeit erinnern?  Spielte es eine Rolle?
      „G'Kar sprach zu mir.  Er erzählte mir Dinge.  Es machte Sinn.  Er weiß über den Feind Bescheid, Delenn.  Er weiß Bescheid, und er bereitet sich vor.  Ich dachte immer, daß wir die einzigen wären, die den bevorstehenden Krieg führen könnten.  Ich hatte Unrecht.  G'Kar baut seine eigene Armee auf, seine eigenen Agenten, und Spione.  Sogar seine eigenen Ranger.  Die meisten sind Narn, aber es gibt auch ein paar andere - hauptsächlich Drazi, aber sogar einen Erdling oder zwei, und ein paar Centauri.
      „Delenn, wie kann alles, an das ich geglaubt hatte, so falsch sein?  Er weiß Bescheid, er versteht es.  Seine Schriften.... das Buch des G'Quan, sie haben es seit einem Jahrtausend gewußt.  Ich dachte immer, daß allein wir geeignet wären, den Krieg zu führen.  Ich hatte Unrecht.
      Delenn, ich werde mich ihm anschließen.  Mein Leben wurde von einem seiner Agenten gerettet, und ich muß die Schuld begleichen.  Seine Worte haben mich berührt, und ich fühle mich an seine Seite berufen, um ihn zu dienen.  Es ist eine Berufung, Delenn.  Ich habe mit Branmer gesprochen, und er versteht es.  Bitte Delenn, sage mir, daß du es auch tust.”
      „Ich....”  Sie war unsicher gewesen, was sie sagen und tun sollte.  „Mein Platz ist hier.”
      „Ich weiß,” war seine geflüsterte Antwort gekommen.  „Ich weiß.”

      Ein weiteres Keuchen.  Sie war so müde, so sehr müde.  Das einzige, was sie tun wollte, war schlafen.  Sie konnte nicht die Ruhe finden, um zu meditieren.  Sie wollte nur schlafen.  Was hatte Welles gesagt?  „Wenigstens werden Ihnen Träume erspart bleiben.”  Er hatte falsch gelegen.  So sehr falsch.
      Es war ein Handel gewesen, ein einfacher Handel.  Ein Menschenleben.  Was für eine Bedeutung hatte dieses eine Leben?  Warum dieses eine?  Es war nicht wichtig gewesen, hatte der Vorlone gesagt.  Es war nicht von Bedeutung gewesen.  Sie hatte sich vergewissern müssen, bevor sie zum Grauen Rat ging.  Sie hatte sich vergewissern müssen, und deswegen hatte der Vorlone sich ihr gezeigt.  Ihre Zweifel waren gewichen, aber nun kamen sie zurück.
      Ein Menschenleben gegen so viele.  Wieviel Blut?  Wieviele tot?  Warum haben die Vorlonen dieses Leben gewollt?
      Die andere Hälfte unserer Seele.  Sheridan und Sinoval... einander so ähnlich.  Welles... wie sehr er wie Neroon aussah, seine Stimme, sein Gesicht, seine Haltung.  Sheridan und Sinoval, wie ein Spiegel.  Ein dunkler, verzerrter Spiegel.  Die andere Hälfte unserer Seele... Menschen?  Nein, das war unmöglich.  Eine Blasphemie.
      Aber sie war dabei gewesen, es zu überprüfen.  Sie hatte ein Triluminarium genommen, nur war dieses jetzt ebenfalls verloren.  So viel verloren, und nichts so sehr wie sie selbst.  Wie viele tot?  Wie viele verloren?  Wie viele?
      Die andere Hälfte unserer Seele.  Neroon?  War er die andere Hälfte meiner Seele?  Wer?  Warum verstand sie nicht?  Wer?  Was?  Zu viele Fragen und nicht einmal sie hatte die Antworten.
      Valen möge mir helfen.  Valen... Ich werde nicht zulassen, daß meinen Kleinen Leid geschieht, nicht hier in meinem großen Haus....  In Valens Namen.... die andere Hälfte meiner Seele... Sheridan und Sinoval... nicht hier in meinem großen Haus... die andere Hälfte meiner Seele... Minbari, aber nicht von Geburt an.... die andere Hälfte meiner Seele.... hier in meinem großen Haus.... meine Seele... nicht von Geburt an... mein großes Haus....

      Als ein weiterer Schlag durch Delenns Körper fuhr, kam ihr Verstand zu einer Erkenntnis, die sie sowohl erschreckte als auch anwiderte.  Sie wußte es.  Oh Valen, letztendlich wußte sie es.
      Ein Minbari, aber nicht von Geburt an.....  In meinem großen Haus.... die andere Hälfte meiner Seele.
      Valen war ein Mensch!

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Sheridan Sheridan hatte noch nie zuvor eine Bestie wie diese gesehen, riesig und dunkel und nur undeutlich sichtbar.  Er erinnerte sich allerdings an etwas Ähnliches, etwas genauso Dunkles und fast Unsichtbares, das Delenn niedergeschlagen hatte.  Es hatte eine andere Gestalt gehabt - weniger menschenähnlich - aber es war ähnlich gewesen.  Nur allzu ähnlich.
      Der Gedanke verblaßte, und er sah nur die Schlacht.  Seine ersten PPG-Schüsse hatten wenig Wirkung auf die Kreatur gehabt, aber sie dienten dazu, es von dem Narn, der blutend am Boden lag, abzulenken.  G'Kar?  Ziemlich sicher.  Die Bestie drehte sich zu Sheridan und er erhaschte einen plötzlichen, flüchtigen Blick auf seine eigene Sterblichkeit.  Es war ein erschreckender Augenblick, aber einer, den er zahllose Male zuvor erlebt hatte, wann immer er in der Schlacht war.
      Die Bestie stürmte vorwärts, und er feuerte.  Wiederum hatten die Schüsse keine Wirkung, und seine Beine waren bereit, ihn aus dem Weg zu bringen.  Er hatte nicht vermutet, wie schnell das Ding sein würde.  Es schlug in seine Seite ein und warf ihn zu Boden.  Er stolperte und die PPG fiel aus seinem Griff.  Er gab seine Waffe für einen Augenblick auf, rollte aus dem Weg und taumelte auf seine Füße.
      Die Bestie beachtete ihn nicht.  Sie hatte einen guten Zugang zu seinem Rücken und seiner Seite.  Sie hätte ihn auseinanderreißen können, aber sie tat es nicht.  Sie stürmte auf Neroon und Ta'Lon zu, von denen keiner eine Waffe mit langer Reichweite hatte.  Neroon schlug mit seinem Metallstab zu, und Sheridan hörte einen Aufschlag, als er die Kreatur traf.  Einen Augenblick lang schien es durcheinander zu sein, und Ta'Lon sprang hin, schlug mit seinem Schwert zu und stieß in das, was wohl die Brust der Kreatur sein mochte.
      Während diese lässig die Wunde ignorierte, schlug sie ihre Klaue nach Ta'Lon, hob ihn mühelos in die Luft und schleuderte ihn zurück.  Der Narn schlug auf die entfernte Wand auf und versuchte, auf seine Füße zu taumeln.  Neroon schlug wieder mit seinem Stab aus, aber der Schlag hatte wenig Wirkung.
      Sheridan blinzelte, und seine Kriegerinstinkte kehrten zurück.  Er blickte sich verzweifelt um, sah seine PPG und hob sie auf.  Er drehte sich zur Bestie und entfesselte ein Sperrfeuer auf eine schrecklich knappe Entfernung.  Da war ein Laut, welches wohl ein Schmerzensschrei sein konnte, und die Bestie drehte sich um.
      Neroon benutzte die Gelegenheit, um auszuschlagen und die Bestie immer wieder mit seinem Stab zu treffen.  Sheridan tauchte unter die schlagenden - nun, er nahm an, es waren Arme - und taumelte hinter Neroon auf seine Füße, so lockte er die Bestie in eine Position, in der Neroon in der Lage wäre, ihre Brust zu treffen.
      PPG-Schüsse, Schläge und Stöße.  Die Bestie fiel zurück.  Neroon verfolgte sie, aber verglichen mit der Bestie hätte er aus Holz gemacht sein können.
      Da war eine verschwommene Bewegung und Neroon fiel.  Er sah aus, als ob er bluten würde.  Sheridan fummelte am Energieaufsatz seiner PPG, und er blickte auf, als die Bestie sich über Neroon auftürmte.  Aus reinem Instinkt handelnd, niemals darauf achtend, daß das ein Minbari war, ließ er sein PPG fallen und hob Neroons Stab auf.  Er blickte auf die Bestie, die immer noch ziemlich widerwillig schien, ihn anzugreifen, und schlug mit dem Stab zu.
      Die Bestie brüllte und taumelte zurück.  Sheridan blickte auf den Stab im stummen Entsetzen, und fand ihn beschmutzt mit etwas, was für ihn nur Blut sein konnte.  Er blickte hinunter und sah die Bestie einen schrecklichen Augenblick lang in voller Sichtbarkeit.
      Ihm war fast schlecht.
      Die anderen hatten andere Sorgen.  Ta'Lon riß sich von der Wand weg, wobei er bei jeder Bewegung zusammenzuckte.  Die Kraft seines Aufschlags hatte zweifellos Knochen gebrochen, aber er schien nicht darauf zu achten.
      „Ha'Cormar'ah G'Kar!” schrie er und halb rannte, halb taumelte er vorwärts.  Neroon erhob sich ebenfalls und blicke auf G'Kar.  Genau wie Sheridan.
      Der gefallene Narn bewegte sich nicht, er atmete nicht einmal.

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„Ihr wißt nicht, ob es fehlgeschlagen ist.  G'Kar ist vielleicht tot.  Vielleicht wird er sich niemals wieder erholen.  Sheridan?  Ja, ich weiß.... seht... er ist ein Krieger.  Er ist darauf trainiert, zu kämpfen, also hat er natürlich gegen den Krieger gekämpft.  Nein... nein.... er kann noch immer ein wertvoller Verbündeter für uns sein.  Er ist noch immer ein wertvoller Verbündeter. Es ist nur die Neugier, das ist alles.  Er will wissen, wer ihn auf Vega Sieben verraten hatte.
      „Ich werde mich um G'Kar kümmern, wenn er noch am Leben ist, und ich werde die Sache mit Sheridan regeln.  Vertraut mir.  Nein, ihr dürft euch nicht persönlich einmischen.  Da ist ein Vorlone in der Nähe, denkt dran.  Ja, ich weiß!  Macht euch keine Sorgen.  Alles ist unter Kontrolle.”
      Susan Ivanova blickte hinab auf die Masse von Körpern, die den Weg säumte, der zu G'Kars Tempel führte, wo sein unumschränkter Prinz vielleicht lebte, und vielleicht tat er es nicht.
      Die Schatten waren nach Narn gekommen.



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